Matt Haig – Wie man die Zeit anhält

»Die erste Regel lautet: Du darfst dich niemals verlieben. Niemals.«

Tom Hazard sieht aus wie vierzig, doch in Wirklichkeit ist er über 400 Jahre alt. Eines war er über die Jahrhunderte hinweg immer: einsam. Denn zu große Nähe zu anderen Menschen wäre lebensgefährlich gewesen. Niemand durfte von seinem Geheimnis wissen. Jetzt aber tritt Camille in sein Leben. Und damit verändert sich alles. (Klappentext)

Schon länger empfiehlt mir eine Freundin Matt Haig, jetzt habe ich mein erstes Buch von ihm in einer Leserunde mit meiner besten Freundin gelesen. Und ich sage es vorab: Es war ein Kracher.

Tom altert langsam. Es vergehen 10 bis 15 Jahre bis er ein Jahr älter aussieht. Was manchen wie ein Segen erscheint, wird ganz schnell zu einem Fluch. Das musste Tom schon früh erkennen, denn er wurde im 16. Jahrhundert geboren und es war der Höhepunkt der Hexenverfolgung. Zu der Zeit war es nicht von Vorteil, wenn die Leute bemerkten, dass man nicht altert. Doch all die Gefahren dieses speziellen Lebens waren fast gänzlich ausgelöscht als Tom von Hendrich in die Albatros-Gesellschaft aufgenommen wird. Die Mitglieder sind wie Tom und sie alle wechseln im Acht-Jahres-Rhythmus ihren Wohnort, ihre Identität, ihr Leben. Denn nur so kann garantiert werden, dass ihre Veranlagung nicht auffliegt.
Seinen neuesten Lebensabschnitt möchte Tom in London als Lehrer verbringen. Doch die Umgebung schleudert ihn immer wieder gedanklich sehr weit zurück in die Vergangenheit.

Dieses Buch dreht sich einzig und allein um Tom und seine über 400 Lebensjahre. Mit der Sympathie zu ihm steht und fällt das Gefühl zum Buch. Umso besser, dass ich Tom sehr mochte. Dabei ist er gar nicht von Grund auf eine liebenswürdige Person. Er ist vorsichtig und distanziert, denn er hat Dinge erlebt, die kann und will man sich gar nicht vorstellen. Und trotz der Albatros-Gesellschaft an seiner Seite ist er stetig auf der Hut aus Angst, entdeckt zu werden, etwas Verdächtiges zu sagen, aufzufallen.
Tom war trotz seines unwirklichen Lebens aber absolut greifbar und authentisch.

Neben der Hauptstory im heutigen London springt man relativ ungeordnet in der Vergangenheit von Tom hin und her. Man erfährt von seiner Kindheit in Frankreich, seinen Jugendjahren im britischen Suffolk, erlebt ihn beim Lieben und Leiden, beim Altern und Reisen. Das Geschichtswissen, das dabei mit in das Buch fließt, ist ebenso einfach wie interessant dargestellt.
Ich fand es vor allem spannend, wie Haig es gelungen ist, die unterschiedliche Bedeutung von Zeit greifbar zu machen. Tom beschäftigen Dinge, die hunderte Jahre zurückliegen noch sehr aktiv. Vieles ist ihm ständig präsent. Menschen, die er Jahrhunderte nicht gesehen hat, sind ihm noch immer nah. Es ist, als würde das Leben der Albas – also den Albatrossen, im Gegensatz zu den normalen Menschen – anders verlaufen. Langsamer. Auf eine seltsame Art vielfältiger und kontinuierlicher zugleich.

Generell kommen hier tiefgründige und philosophische Themen, vor allem in Bezug auf Zeit und den Sinn eines (langen) Lebens, nicht zu kurz. Ich beschäftigte mich beim Lesen häufig mit den Fragen und fand Hoffnung zwischen den Zeilen. Denn wir alle werden nicht so lange wie Tom leben. Wir werden viel verpassen. Entwicklungen, Entdeckungen, das Leben unserer Nachkommen. Aber vielleicht ist das nicht so tragisch, wie es sich manchmal anfühlt.

In unserer Leserunde hatten wir mit 30 Seiten am Tag ein recht geringes Lesepensum, aber die Seiten sind täglich nur so dahingeflogen. Das Buch liest sich wahnsinnig schnell und man kann es sich zwischen den Seiten so richtig gemütlich machen. Es ist absolut nicht gradlinig und trotzdem weder anstrengend noch kompliziert.

Ganz am Ende hätte ich für ein paar Kleinigkeiten gern noch mehr Erklärungen gehabt. Das ein oder andere Verhalten von Figuren überrumpelte mich und war auch nicht glaubwürdig. Einigen Sachen hätte sich Matt Haig gern noch in ein paar Kapiteln widmen können. Ich glaube aber auch, dass das Gefühl aus dem sehr intensiven Lesen und Besprechen aufgrund der Leserunde kommt. Für mich allein hätte ich da noch eher drüber hinweggelesen.
Trotzdem hatte ich sehr viel Spaß mit diesem besonderen Buch.

Matt Haig – Wie man die Zeit anhält
Originaltitel: How To Stop Time (Dezember 2017)
dtv, 25. Oktober 2019
ISBN 342321810X
383 Seiten
Taschenbuch; 10,95 Euro