54 Minuten, die alles zerstören
Es passiert nicht viel im verschlafenen Opportunity, Alabama. Wie immer zum neuen Halbjahr hält die Direktorin in der Aula der Highschool ihre Begrüßungsrede. Es ist dieselbe Ansprache wie in jedem Halbjahr, und wie immer ist sie um exakt zehn Uhr zu Ende. Aber heute ist alles anders.
Als Schüler und Lehrer die Aula verlassen wollen, kann man die Türen nicht mehr öffnen. Einer beginnt zu schießen. Tyler greift seine Schule an und macht alle fertig, die ihm Unrecht getan habe. (Klappentext)
Als ich dieses Buch Anfang Juni auf Arbeit ergattern konnte, wusste ich, dass ich es unbedingt bald – also weit vor dem Erscheinungstermin – lesen muss. Und das habe ich getan. Endlich darf ich meine Meinung dazu veröffentlichen.
Fast alle Schüler der Opportunity High sind in der Aula, als die Türen sich nicht mehr öffnen lassen und Tyler durch die einzige noch unverschlossene Tür tritt. Tyler, der als erstes die Direktorin erschießt, damit die Schüler, die Lehrer, ja die ganze Schule ihm endlich mal ganz genau zuhört…
Niemand ist sicher. Nicht mal seine Schwester Autumn, die friedlich ihre letzte Zeit vor dem Abschluss genießen wollte.
Erzählt wird die Geschichte minutenweise.
Die einzelnen Kapitel, drehen sich jeweils um zwei bis drei Minuten. Erzählt werden sie aus den Perspektiven von vier Schülern: Autumn, ihre Freundin Sylv, deren Bruder Tomás und Claire. Die letzten beiden haben Glück, sie sind zwar in der Schule, aber nicht in der Aula.
Jede Person hat im Durchschnitt zwei bis drei Seiten, um seine Situation in den aktuellen Minuten zu schildern. Doch dabei entfaltet sich nach und nach auch das Bild von Tyler, der sich mit den vier Personen jeweils in einem besonderen Verhältnis befindet. Der Leser versteht immer mehr, wie es dazu kommen konnte, dass er nun da steht. Vor seinen Mitschülern. Mit einer Waffe.
Der Markt der Bücher ist nicht überschwemmt mit Büchern über (Schul)Amokläufe. So wurde „54 Minuten“ mein erstes. Und dabei ist dieses Thema so wahnsinnig wichtig. Zu oft gab es schon welche. Grundsätzlich ist ja schon ein Mal eins zu viel. Und selbst, wenn es nicht bis zum Äußersten kommt, zeigt das Buch doch, wie die Grundsteine gelegt werden. Wie Gewalt, Ausgrenzung und Mobbing Menschen zu Dingen treiben können. Deswegen schlägt dieses Buch hoffentlich im Jugendbuchbereich eine hohe Welle.
Doch weder sollten das Buch nur Jugendliche lesen, noch ausschließlich aufgrund der Thematik. „54 Minuten“ bietet noch viel mehr.
Tyler, der eine Person nach der anderen in der Aula erschießt, erzeugt schon viel Spannung. Wie vielen Menschen wird er das Leben nehmen? Wer wird alles überleben? Wer wird aus der Aula rauskommen?
Doch auch die beiden Erzähler, die nicht in der Aula gefangen sitzen, machen es spannend. Denn: Wer wird in die Aula hineinkommen?
Die vier Erzähler machen es einem dabei sehr leicht, sie gern zu haben. Und das nicht, weil man mit den Opfern automatisch eher sympathisiert. Sie bieten alle eine Tiefe an Emotionen und sind mit einer glaubhaften und interessanten Hintergrundgeschichte ausgestattet, die geschickt neben dem aktuellen Geschehen, auf das alle fokussiert sind, einfließt.
Die drei Mädchen Autumn, Sylv und Claire sind sich charakterlich ziemlich nah und unterscheiden sich auf den ersten Blick am besten durch ihre Interessen und Hobbys. Doch nichtsdestotrotz verwischen die Grenzen nie. Man kann sie immer auseinanderhalten.
Und auch der große Rest der Schule verkommt nicht zu einer Masse. Einzelne Schüler, Lehrer oder Geschwister treten heraus und werden zu wichtigen Nebenrollen.
Wichtig ist natürlich auch Tyler, der aktiv sehr wenig zu Wort kommt. Marieke Nijkamp schafft es, das Bild eines Jungen zu zeichnen, der einerseits wahnsinnig zerbrechlich und andererseits unglaublich erbarmungslos ist. Letztendlich wird er jedoch nie als ausschließlich irre dargestellt. Auch Tyler hatte seine Gründe, sich mit Gewalt ein Gehör zu verschaffen. Und diese Gründe werden in der Geschichte aufgedeckt. Es gibt kein klares Schwarz und Weiß bei ihm. Die Autorin verurteilt ihn nicht einfach.
Dieses Zusammenspiel der einzelnen Teile schafft viele Emotionen beim Leser. Ein spannender Plot, der durch die unterschiedlichen Gegebenheiten nicht langweilig wird. Personen, die man schnell ins Herz schließt und für die man hofft, dass Tyler sie verschonen wird. Eine Erzählweise, die viele verschiedene Blickwinkel schafft und das Puzzle „Tyler“ ein Ganzes werden lässt. Und zusätzlich punktet die Geschichte noch mit einer unauffälligen Schreibweise, die den Leser Seite um Seite verschlingen lässt, ohne dass er es merkt. Dabei stellt sie sich nicht in den Vordergrund, sondern lässt ganz allein die Story wirken.
Das Buch ließ mich nicht los. Es hielt mich in seinem Bann. Ich war mit meinen Gefühlen und meinem Herzen bei ihm.
Es wäre falsch zu sagen, dass ich Spaß mit „54 Minuten“ hatte. Aber ich habe geliebt, es zu lesen.
Aber so insgesamt, wäre ich gern noch ein wenig mehr überrascht oder geschockt worden. So seltsam es klingt, das Buch hätte mir mehr das Herz brechen sollen. Nur deswegen ziehe ich ein ganz kleines bisschen bei der Bewertung ab.
Marieke Nijkamp – 54 Minuten – Jeder hat Angst vor dem Jungen mit der Waffe
Originaltitel: This is Where it Ends (Januar 2016)
FISCHER FJB, 21. September 2017
ISBN: 3841440169
331 Seiten
Broschiert, 14,99 Euro