
Nachdem ihr Vater die Familie verlassen hat, ist Jule mit ihrem Bruder und ihrer selbstmordgefährdeten Mutter aufgewachsen. Als Erwachsene hat sie sich einen Alltag geschaffen, in dem sie alles nur noch irgendwie erträgt: ihren Job als Sängerin, die unzähligen Anrufe ihrer Mutter, den ganzen Hass in ihr, der sie fast verschwinden lässt. Als auch ihre Beziehung zu bröckeln beginnt, flieht sie zu ihrem Bruder nach England auf der Suche nach Ruhe und Anonymität. Doch dort trifft sie auf ihren Vater, der im Sterben liegt. Zaghaft beginnt Jule einen letzten Versuch, sich dem Mann anzunähern, von dem sie sich ihr Leben lang im Stich gelassen gefühlt hat.
»Ist Blut tatsächlich dicker als das ganze Wasser zwischen uns?« (Klappentext)
In „180° Meer“ ist nicht die Geschichte, die der Klappentext sehr gut wiedergibt, wichtig, sondern Jule.
Jule mit aufregendem Haar und egalem Rest. Jule, die ihren Hass und all ihre Verachtung seit Jahren gut hegt und pflegt. Jule, die niemanden so richtig an sich ranlassen möchte.
Plötzlich ändert sich ihr Leben und dabei steht sie doch gerade mitten auf dem Flohmarkt. Die Flucht nach England zu ihrem geliebten Bruder ist die letzte Rettung. Hier kann sie zur Ruhe kommen und nachdenken, Urlaub von sich selber machen. Doch nun ist sie im gleichen Land wie ihr Vater und muss man da nicht versuchen, alte Wunden heilen zu lassen?
Jule ist ein Charakter, der es einem nicht leicht macht, sie zu mögen. Sie ist kaputt und zerrissen. Stößt Menschen eher von sich weg und vor den Kopf, als dass sie sie an sich lässt. Sie ist auch keine Figur, mit der man sich allzu leicht identifizieren kann. Sie ist anstrengend und launisch und manches Mal ist man so genervt von ihr, wie sie von sich selber. Und doch mochte ich sie mit all ihrer zerbrechlichen Krawalligkeit.
Es war schön und wichtig, sie zu begleiten. Ein bisschen aus dem Hintergrund anfeuern und ihr wünschen, dass sie all die schlechten Gefühle in ihr ein wenig loslassen kann. Und am Ende kann und muss man sie trotzdem liebgewinnen, denn wie sagt sie schon selbst: „Weißte, kann schon sein, dass es schwerer ist, jemanden zu lieben, der sich selbst nicht mag. Aber auf der anderen Seite muss so jemand vielleicht ganz besonders liebgehabt werden.“.
Genauso anstrengend wie Jule selbst war manchmal die Schreibart von Sarah Kuttner. Man las schnell, flüssig und vom Text eingesaugt vor sich hin und dann kamen plötzlich solche Sätze… Sätze, die immer ein bisschen zu lang, ein bisschen zu verschwurbelt, mit zu vielen Adjektiven und Adverbien waren. Sätze, bei denen ich in der sechsten Zeile vergessen hatte, wie ihr Anfang war. Aber gerade diese Art machte das Buch besonders.
Den schmalen Grat zwischen Umgangssprache und „angemessener Romanschreibweise“ trifft Sarah Kuttner perfekt. Und immer, wenn Jule Angst hatte, etwas zu verbummeln, schlich sich alles noch etwas mehr in mein Herz (auch wenn ich nicht weiß, wo diese anscheinend krankhafte Affinität zu dem Wort „verbummeln“ herrührt.).
Die Personen schließen sich nahtlos an dieses „anders, aber gerade deswegen perfekt“-Bild an. Jeder wirkt so authentisch, dass ich mich regelmäßig bei der Frage erwischte, wie viel Sarah wohl in Jule steckt. Wie viel Familie Kuttner in Jules Familie.
Jeder hatte seine Eigenarten, die nicht schrullig überspitzt wirkten, sondern genauso sein könnten. Und hierin liegt vielleicht die Tragik des ganzen Buches.
Ich war so, so gern in England mit Jule und schaute ihr beim Entwickeln zu. Auf der letzten Seite wurde ich ganz merkwürdig traurig. Nicht unbedingt wegen des Endes, sondern wegen der Gewissheit, dass ich ab nun wieder ohne sie bin.
Beim Lesen stellte sich sehr schnell ein Bild von „Max Black“ aus „2 Broke Girls“ ein. Mit all ihrer Bock- und Emotionslosigkeit und den wilden, dunklen Locken passte es so unglaublich gut.
Aber das Buch war anstrengend. Es war anstrengend Jules Gefühlen zu folgen, den langen, verschachtelten Sätzen zu folgen, dem emotionalen Kraftakt, mit diesen schwierigen Eltern klarzukommen, zu folgen. Aber es war eine gute Anstrengung. Eine, die Spaß machte. Eine, auf die ich nicht verzichten wollte.
Mich konnte das Buch zwar am Ende emotional nicht so richtig mitreißen (was vielleicht auch an den generellen Emotionsproblemen von Jule liegt) und storytechnisch war mir das vielleicht auch ganz kleines bisschen zu dürftig, aber insgesamt passte der Rest perfekt. 
Sarah Kuttner – 180° Meer
S. Fischer Verlag, 31. Dezember 2015
ISBN 310002494X
271 Seiten
Gebunden; 18,99 Euro
Kostenloses Rezensionsexemplar